(Stuttgart) Das Bundesverfassungsgericht hat den Verfassungsbeschwerden zweier Arbeitgeberinnen stattgegeben, die sich insbesondere gegen die gerichtlich zuerkannte Zahlung höherer als der tariflich vereinbarten Nachtzuschläge wenden, und die Verfassungsbeschwerden der Verbände verworfen, die die betroffenen Tarifnormen vereinbart hatten.

Darauf verweist der Stuttgarter Fachanwalt für Arbeitsrecht Michael Henn, Präsident des VDAA – Verband deutscher ArbeitsrechtsAnwälte e. V. mit Sitz in Stuttgart unter Hinweis auf die Mitteilung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19.02.2025 zu dem Beschluss vom 11. Dezember 2024 – 1 BvR 1109/21 und 1 BvR 1422/23 -.

Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen zwei Urteile des Bundesarbeitsgerichts. Dieses hat die beschwerdeführenden verbandsangehörigen Arbeitgeberinnen jeweils zur Zahlung höherer als tarifvertraglich vereinbarter Zuschläge an die in Nachtschichtarbeit beschäftigten Kläger der Ausgangsverfahren verurteilt. Die differenzierenden Nachtarbeitszuschlagsregelungen seien mit Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) unvereinbar und die tariflichen Zuschlagsregelungen in der Folge „nach oben anzupassen“. Die Verbände, deren Tarifnormen für mit der Verfassung unvereinbar befunden wurden, waren im Verfahren vor den Arbeitsgerichten nicht beteiligt.

Die Verfassungsbeschwerden der Verbände gegen diese Entscheidungen sind unzulässig. Die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts verletzen aber die beschwerdeführenden Arbeitgeberinnen in ihrem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG. Die Auslegung des Bundesarbeitsgerichts, wonach die tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen über die Nachtschichtarbeit mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar seien und auf Rechtsfolgenebene die Zuschlagsregelungen zur Nachtarbeit Anwendung fänden („Anpassung nach oben“), berücksichtigt die Koalitionsfreiheit nicht in verfassungsrechtlich zutreffender Weise. Zwar müssen die in kollektiver Privatautonomie handelnden Tarifvertragsparteien bei der Tarifnormsetzung den Grundsatz der Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG beachten. Bei der Prüfung der Tarifverträge hat das Bundesarbeitsgericht aber die Bedeutung der Tarifautonomie aus Art. 9 Abs. 3 GG für die Reichweite dieser Bindung an Art. 3 Abs. 1 GG wie auch für die Folgen seiner Verletzung nicht ausreichend beachtet.

Die Urteile des Bundesarbeitsgerichts wurden aufgehoben und die Sachen an das Bundesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung erging hinsichtlich der Begründung mit 7 : 1 Stimmen. Richter Wolff hat ein Sondervotum verfasst.

  • Sachverhalt:

Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen zwei Urteile des Bundesarbeitsgerichts. Dieses hat die beschwerdeführenden Arbeitgeberinnen zur Zahlung höherer als tarifvertraglich vereinbarter Zuschläge an die jeweils in Nachtschichtarbeit beschäftigten Kläger der Ausgangsverfahren verurteilt. Die jeweiligen Zuschlagsregelungen für (regelmäßige) Nachtschichtarbeit in den anwendbaren Tarifverträgen seien angesichts der jeweils höheren Zuschlagsvergütungen für unregelmäßige Nachtarbeit mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Rechtsfolge hieraus sei eine „Anpassung nach oben“ dergestalt, dass für die benachteiligte Nachtschichtarbeit rückwirkend die (höheren) Nachtarbeitszuschläge zu zahlen seien. Im Verfahren 1 BvR 1109/21 (Verfahren zu I.) hat das Bundesarbeitsgericht zudem festgestellt, dass die beschwerdeführende Arbeitgeberin verpflichtet ist, an den dortigen Kläger auch künftig für Nachtschichtarbeit Zuschläge nach Maßgabe der tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschlagsregelungen zu zahlen.

Nach den gegenständlichen Tarifverträgen erhalten Nachtarbeitnehmer für ihre Tätigkeit zur Nachtzeit einen Zuschlag von 50 %, während Nachtschichtarbeitnehmer für die Arbeit in der Nachtschicht lediglich einen Zuschlag von 25 % erhalten. Beschäftigte, die in Nachtschicht arbeiten, können grundsätzlich auch von Schichtfreizeiten, bezahlten Pausen sowie von einer Aufsummierung verschiedener Zuschläge profitieren.

Die beschwerdeführenden verbandsangehörigen Arbeitgeberinnen sind durch die in Nachtschicht arbeitenden Kläger der Ausgangsverfahren, welche auch Mitglied der jeweiligen tarifschließenden Gewerkschaften sind, auf Zahlung eines höheren als des im Tarifvertrag für Nachtschichtarbeit vorgesehenen Zuschlags für ihre jeweils erbrachte Tätigkeit zur Nachtzeit verklagt worden.

Das Bundesarbeitsgericht hat im Rahmen der Revisionsverfahren in den tarifvertraglichen Unterscheidungen der Zuschläge für Nachtarbeit und für Nachtschichtarbeit jeweils einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG erkannt. Zwar seien die Tarifvertragsparteien nicht unmittelbar an Grundrechte gebunden, wenn sie tarifliche Normen setzten. Die Grundrechte hätten aber mittelbare Drittwirkung in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten; sie entfalteten ihre Wirkung als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen und strahlten als „Richtlinien“ auf privatrechtliche Beziehungen aus. Dieser Ausstrahlungswirkung müssten die Gerichte als staatliche Gewalt bei ihren Entscheidungen genügen. Es sei die Aufgabe der Arbeitsgerichte, die Grundrechte der von den Tarifnormen erfassten Beschäftigten zu schützen, indem sie die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien beschränkten, wenn sie mit den Freiheits- und Gleichheitsrechten oder mit anderen Rechten der Normunterworfenen mit Verfassungsrang kollidierten. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bilde als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie. Der Schutzauftrag der Verfassung verpflichte die Gerichte dazu, gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen zu unterbinden und entsprechenden Regelungen die Durchsetzung zu verweigern.

Danach verstoße die im Tarifvertrag enthaltene Differenzierung bei den Zuschlägen für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Übereinstimmend knüpften die Zuschlagstatbestände an die Arbeitsleistung in der tarifvertraglich definierten Nachtzeit an. Die unterschiedlich hohen Zuschläge für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit für die Gruppen von Arbeitnehmern, die nachts arbeiteten, bewirkten eine Ungleichbehandlung. Aus den Tarifverträgen ergebe sich kein Anhaltspunkt dafür, dass die Tarifvertragsparteien mit der Verdoppelung des Zuschlags für Nachtarbeit einen auf einem sachlichen Grund beruhenden Zweck verfolgt haben könnten. Die mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarende Ungleichbehandlung könne nur durch eine „Anpassung nach oben“ beseitigt werden.

Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen die Urteile des Bundesarbeitsgerichts. Die beschwerdeführenden Arbeitgeberinnen und die Verbände rügen mit ihren Verfassungsbeschwerden insbesondere eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG.

– Wesentliche Erwägungen des Senats:

  1. Die Verfassungsbeschwerden der beschwerdeführenden Verbände sind unzulässig; die der beschwerdeführenden Arbeitgeberinnen sind dagegen zulässig und begründet. Die angegriffenen Urteile des Bundesarbeitsgerichts verletzen sie in ihrem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG.
  1. Die Verfassungsbeschwerden der beschwerdeführenden Verbände sind unzulässig. Zwar sind die Verbände beschwerdebefugt, weil der Schutzgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich auch die Anwendung der Tarifnormen im Individualarbeitsverhältnis erfasst. Ihre Verfassungsbeschwerden sind aber unzulässig, weil sie die Einhaltung des Grundsatzes der Subsidiarität nicht in der gebotenen Weise dargelegt haben. Insbesondere das Verfahren nach § 9 Tarifvertragsgesetz (TVG) eröffnet jedenfalls für die Tarifvertragsparteien die Möglichkeit, die Rechtswirksamkeit tariflicher Regelungen frühzeitig mit verbindlicher Wirkung für die Normunterworfenen losgelöst vom Einzelfall klären zu lassen. Von dieser Möglichkeit haben die beschwerdeführenden Verbände als Parteien der verfahrensgegenständlichen Tarifverträge keinen oder jedenfalls nicht rechtzeitig Gebrauch gemacht und zumindest nicht hinreichend dargelegt, dass nicht mittels dieses Verfahrens die behaupteten Grundrechtsverletzungen hätten verhindert werden können.
  1. Die Verfassungsbeschwerden der beschwerdeführenden Arbeitgeberinnen sind dagegen zulässig und in Bezug auf Art. 9 Abs. 3 GG begründet.
  1. a) Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit ist nicht schrankenlos gewährleistet, sondern kann begrenzt werden. Zu den Grenzen der Tarifautonomie gehört die grundsätzliche Bindung der Tarifvertragsparteien an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bei der Vereinbarung von Tarifnormen. Dies folgt aus Art. 9 Abs. 3 GG, der nicht nur die individuelle und kollektive Koalitionsfreiheit schützt, sondern beide auch in spezifischer Weise verknüpft. Die Tarifautonomie umfasst die rechtsverbindliche Wirkung der Tarifverträge in den tarifgebundenen Individualarbeitsverhältnissen. Gegenläufig sind die Tarifvertragsparteien dann aber zum Schutz ihrer Mitglieder bei der Vereinbarung verbindlicher Tarifnormen an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebunden. Die Kollektivierung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen kann die individuelle Freiheit, die durch die rechtsverbindliche Wirkung der Tarifverträge grundsätzlich erweitert wird, auch gefährden. Denn die Mitglieder der Koalitionen haben regelmäßig keinen unmittelbaren Einfluss auf die konkreten Tarifverhandlungen, deren Ergebnisse für sie rechtsverbindlich werden. Sie sind darauf angewiesen, dass ihre Interessen in den Verhandlungen tatsächlich angemessen repräsentiert und in den Ergebnissen angemessen abgebildet werden. Diese strukturelle Gefährdungslage wird auch durch die Möglichkeit, die selbstbestimmte Mitgliedschaft in der tarifschließenden Vereinigung aufzugeben, nicht vollständig beseitigt. Der Bindung der Tarifvertragsparteien an Art. 3 Abs. 1 GG stehen weder Art. 1 Abs. 3 GG noch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes entgegen.
  1. b) aa) Die Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz erfordert zugleich den Zweck der Tarifautonomie, eine grundsätzlich autonome Aushandlung der Tarifregelungen zu ermöglichen, und den damit einhergehenden Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen. Dies begrenzt die richterliche Kontrolldichte. Bei Tarifnormen, deren Gehalte im Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen liegen und bei denen spezifische Schutzbedarfe oder Anhaltspunkte für eine Vernachlässigung von Minderheitsinteressen nicht erkennbar sind, ist sie auf eine Willkürkontrolle beschränkt.
  1. bb) Diesen Kontrollmaßstab hat das Bundesarbeitsgericht bei der Prüfung der Tarifverträge verletzt.

(1) Die beanstandeten Zuschlagsregelungen zur Vergütung von Nachtarbeit beziehungsweise Nachtschichtarbeit liegen im Kernbereich der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Gestaltungskompetenz der Tarifvertragsparteien. Tarifliche Zuschlagsregelungen für Nachtarbeit beziehungsweise Nachtschichtarbeit betreffen grundlegende Elemente des Leistungsaustausches. Die differenzierenden Zuschlagsregelungen knüpfen auch nicht an personenbezogene Merkmale im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG an. Auch sonst sind keine Anzeichen gravierend fehlgehender Repräsentation gegeben.

(2) Die in den Ausgangsverfahren in die Prüfung einzustellenden Tarifregelungen bewirken zwar eine Ungleichbehandlung zwischen Nachtarbeitnehmern und Nachtschichtarbeitnehmern. Nachtarbeit wird danach in beiden Tarifverträgen insbesondere durch einen erhöhten finanziellen Zuschlag kompensiert, während Nachtschichtarbeit zusätzlich insbesondere durch Schichtfreizeiten und bezahlte Pausen ausgeglichen wird.

Das Bundesarbeitsgericht verletzt aber bei der Prüfung der Tarifverträge Art. 9 Abs. 3 GG, denn die Ungleichbehandlungen der Nachtschichtarbeitnehmer und Nachtarbeitnehmer durch die Tarifnormen sind ausgehend von dem gebotenen Willkürmaßstab nicht zu beanstanden.

Das Bundesarbeitsgericht verkennt bei Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG den aus Art. 9 Abs. 3 GG folgenden Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien. Es postuliert zwar in den angegriffenen Entscheidungen einen zurückgenommenen Prüfungsmaßstab; der Sache nach nimmt es aber eine detaillierte Prüfung vor und verkennt dabei, dass für die vorgenommenen tariflichen Differenzierungen unter Berücksichtigung der tariflichen Regelungskonzeptionen und der spezifischen Besonderheiten zum jeweiligen Zeitpunkt der Tarifnormsetzung sachliche Gründe objektiv erkennbar sind. Bei der Prüfung müssen nicht nur diejenigen rechtfertigenden Zwecksetzungen beachtet werden, die Niederschlag im Tariftext gefunden haben. Für die differenzierenden tariflichen Regelungen zur Nachtarbeit beziehungsweise Nachtschichtarbeit stellen jedenfalls die zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit bestehenden unterschiedlichen sozialen Belastungen in Folge der unterschiedlichen Planbarkeit, der Aspekt der Verteuerung von Nachtarbeit für den Arbeitgeber sowie die Erwägung, dass die Beschäftigten durch den erhöhten Zuschlag zur Erbringung von Nachtarbeit motiviert werden können, sachlich einleuchtende Gründe dar. Diese Zwecksetzungen sind von der Gestaltungskompetenz der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifvertragsparteien erfasst.

  1. c) Die angegriffenen Urteile des Bundesarbeitsgerichts verletzen Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG auch durch den für den angenommenen Gleichheitsverstoß herangezogenen Rechtsfolgenausspruch mit Wirkung für die Vergangenheit in beiden Verfahren und für die Zukunft im Verfahren zu I.
  1. aa) Bei der Bestimmung der Rechtsfolgen gleichheitswidriger Tarifnormen müssen die Gerichte die Koalitionsfreiheit der Tarifvertragsparteien und insbesondere deren Spielräume in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beachten. Wenn die Tarifvertragsparteien von ihrer grundrechtlich geschützten Regelungsbefugnis zur Ordnung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Tarifverträge Gebrauch gemacht haben, setzt sich dieser grundrechtliche Gestaltungsspielraum bei der Tarifnormsetzung im Falle verschiedener Möglichkeiten zur Beseitigung der Ungleichbehandlung als grundsätzlich primäre Korrekturkompetenz fort.

Soweit sich nicht aus dem Tarifvertrag selbst bereits die von den Tarifvertragsparteien gewollte Regelung ergibt und den Tarifvertragsparteien vielmehr verschiedene Möglichkeiten zur Beseitigung des Gleichheitsverstoßes offenstehen, müssen sie jedenfalls die Chance zur tarifvertraglichen Korrektur erhalten. Die Gerichte dürfen in diesen Fällen also nicht unmittelbar eine rechtlich individuell verbindliche und faktisch mittelbar auf gleich gelagerte Anwendungsfälle ausstrahlende Neuregelung zur Herstellung der gebotenen Gleichbehandlung treffen. Sie sind im Individualrechtsstreit bei gleichheitswidrigen Vergütungsregelungen zu einer „Anpassung nach oben“, also zur Ausweitung der begünstigenden Regelung auch auf die benachteiligte Personengruppe, nur dann berechtigt, wenn das spezifische tarifautonome Gestaltungsermessen zur Beseitigung des Gleichheitsverstoßes auf der Ebene des Entschließungs- und des Auswahlermessens auf eine einzige Gestaltungsmöglichkeit, nämlich die Vergünstigung für beide (Personen-)Gruppen, reduziert ist.

  1. bb) Der hier bestehenden primären Korrekturkompetenz der Tarifvertragsparteien tragen die angegriffenen Urteile nicht hinreichend Rechnung.

(1) Die Rechtsfolge einer „Anpassung nach oben“ konnte für beide hier gegenständliche Tarifverträge nicht auf einen Willen der Tarifvertragsparteien gestützt werden. Die höher dotierte Nachtarbeit ist nach den insoweit übereinstimmenden Stellungnahmen, welche im Verfahren abgegeben wurden, in den unter den Anwendungsbereich der Tarifverträge fallenden Betrieben die absolute Ausnahme, während Nachtschichtarbeit verbreitet vorkommt. Auf Nachtarbeit wird nur in wenigen Fällen zurückgegriffen. Dieses quantitative Verhältnis der Beschäftigungsformen – Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit – ist ausweislich der Stellungnahmen bekannt und dürfte auch den tarifschließenden Kommissionen bei Vertragsschluss und Aufstellung der differenzierenden Regelungssysteme bewusst gewesen sein. Dass die Tarifvertragsparteien in Kenntnis der Gleichheitswidrigkeit der Zuschlagsregelung über die Nachtschichtarbeit pauschal einen Zuschlag in Höhe von 50 % für alle Nachtarbeitnehmer zusätzlich zu den übrigen tariflichen Regelungen abgeschlossen hätten, liegt mit Blick auf die faktische Beschäftigungssituation und die damit bewirkte erhebliche Ausweitung des Dotierungsrahmens nicht auf der Hand.

(2) Die angegriffenen Gerichtsentscheidungen tragen zudem den tariflichen Regelungskonzepten im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung nicht hinreichend Rechnung. Die unterstellten Gleichheitsverstöße ergeben sich aus dem Vergleich zweier Regelungssysteme – der Nachtschichtarbeit und der Nachtarbeit –, für welche die Tarifverträge jeweils ausdifferenzierte Regelungen vorsehen, zu denen auch, aber nicht nur, reine Zuschläge zählen. Durch den in den angegriffenen Entscheidungen zur Rechtsfolgenbestimmung herangezogenen Verweis allein auf das Bezugssystem „Zuschlagsregelungen“ wird das jeweilige tarifliche Regelungskonzept und das den Tarifvertragsparteien in Bezug auf die Regelung der Nachtarbeit zustehende Wahlrecht verkannt und es droht eine mit dem originären Tarifwillen unvereinbare Besserstellung der Nachtschichtarbeitnehmer.

(3) Das Bundesarbeitsgericht verletzt die Koalitionsfreiheit der beschwerdeführenden verbandsangehörigen Arbeitgeberinnen durch den Rechtsfolgenausspruch, weil sich das tarifautonome Gestaltungsermessen nicht auf eine „Anpassung nach oben“ verdichtet hat.

(a) Soweit das Bundesarbeitsgericht dem auf die Zukunft gerichteten Feststellungsantrag stattgegeben hat, übergeht die angefochtene Entscheidung die von Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG geschützte primäre Korrekturkompetenz. Angesichts des für die Zukunft bestehenden Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien kommt eine gerichtliche Folgenbeseitigung bei gleichheitswidrigen Tarifnormen durch eine „Anpassung nach oben“ regelmäßig nicht für die Zukunft, sondern allenfalls für die Vergangenheit in Betracht. Besondere Aspekte der Schutzwürdigkeit auf Seiten der Tarifnormunterworfenen, die eine ausnahmsweise Aufhebung der grundsätzlichen Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien für die Zukunft rechtfertigen könnten, sind hier nicht ersichtlich.

(b) Das Bundesarbeitsgericht verletzt schließlich Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG, soweit es in beiden Entscheidungen auf Rechtsfolgenebene jeweils eine „Anpassung nach oben“ für die Vergangenheit annimmt.

Auch bei einer tariflichen Neuregelung mit Wirkung für die Vergangenheit, also für den Zeitraum vor der gerichtlichen Feststellung eines Gleichheitsverstoßes, besteht für die Tarifvertragsparteien grundsätzlich ein Gestaltungsspielraum. Dieser kann allerdings insbesondere durch einen Vertrauensschutz begrenzt sein.

Den Tarifvertragsparteien kam hier, eine Gleichheitswidrigkeit der Tarifnormen unterstellt, ein Gestaltungsspielraum auch für den Zeitraum vor der Feststellung des Gleichheitsverstoßes zu. Ihnen standen zudem im Ausgangspunkt mehrere Regelungsmöglichkeiten zur Verfügung, den unterstellten Gleichheitsverstoß auch für die Vergangenheit für eine Vielzahl tarifgebundener Arbeitsverhältnisse zu beseitigen. Es hätte ihnen zudem freigestanden, im Wege einer Nachtragsvereinbarung zum Tarifvertrag deklaratorisch klarzustellen, dass der höhere Nachtarbeitszuschlag insbesondere dem Ausgleich der fehlenden Planbarkeit dient.

Der Gestaltungsspielraum wurde auch nicht durch Vertrauensschutz auf eine „Anpassung nach oben“ verengt. Selbst wenn man die engen Maßstäbe zu Grunde legte, die hinsichtlich einer rückwirkenden Regelung für den Gesetzgeber gelten, wäre eine generelle „Anpassung nach oben“ nicht zwingend gewesen. Zwar haben die partiell grundrechtsgebundenen Tarifvertragsparteien bei der rückwirkenden Normsetzung im Wege kollektiver Privatautonomie strukturell vergleichbare Vorgaben wie der Gesetzgeber zu beachten und müssen die dogmatischen Wurzeln des Rückwirkungsverbots für Gesetze, den Vertrauensschutz und das Gebot der Rechtssicherheit, beachten. Der Vertrauensschutz ist anders als im Verhältnis zwischen Staat und Bürgern bei Tarifnormen allerdings doppelseitig und den tarifnormunterworfenen Koalitionsmitgliedern auf beiden Vertragsseiten zu gewähren. Entsprechend besteht keine durch Vertrauensschutz vorgegebene Regelung in den Fällen, in denen sich ‑ wie hier ‑ sowohl die tarifgebundenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch die tarifgebundenen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber auf ihn berufen können.

(4) Es bestand hiervon ausgehend keine Grundlage, um in den angegriffenen Entscheidungen den auch gegenüber den beschwerdeführenden Arbeitgeberinnen von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien durch die gerichtliche Anordnung einer „Anpassung nach oben“ zu überspielen. Es hätte auch im Falle einer Gleichheitswidrigkeit deshalb zunächst den Tarifvertragsparteien Gelegenheit gegeben werden müssen, einen schonenden Ausgleich der widerstreitenden Positionen im Wege einer autonomen Verhandlung zu erzielen. Hierfür bietet das Prozessrecht hinreichende Möglichkeiten.

  1. Die Urteile des Bundesarbeitsgerichts sind wegen der Verletzung von Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG aufzuheben. Die Sachen werden an das Bundesarbeitsgericht zurückverwiesen.
  • Abweichende Meinung des Richters Wolff:

Die Entscheidung des Senats, die hier zur Prüfung stehenden normativen Regeln des Tarifvertrags an einem Willkürverbot zu messen, trage ich uneingeschränkt mit, nicht aber deren Herleitung. Zutreffender Ansicht nach folgt die Möglichkeit der Kontrolle am Willkürverbot nach Maßgabe der mittelbaren Drittwirkung. Der entgegengesetzten Ansicht der Senatsmehrheit, die Wahrnehmung der Tarifautonomie der Koalitionen sei unmittelbar an den Grundrechten des Grundgesetzes zu messen, vermag ich mich nicht anzuschließen. Das Grundgesetz sieht keine unmittelbare Grundrechtsbindung der Koalitionen vor. Eine Grundrechtsbindung, zumal wenn diese nicht auf das Willkürverbot beschränkt sein soll, schränkt die Koalitionen im Sinne von Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG nach meiner persönlichen Ansicht bei der Wahrnehmung ihrer grundrechtlichen Freiheit in einer vom Grundgesetz nicht gewollten Weise ein.

  1. Eine ausdrückliche Bindung der Koalitionen an die Grundrechte sieht Art. 9 Abs. 3 GG nicht vor. Auch eine ungeschriebene Erstreckung des Art. 1 Abs. 3 GG auf die Grundrechtsträger des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG bei der Wahrnehmung der Tarifautonomie liegt nicht nahe. Es ist ein Kennzeichen des Grundrechtsschutzes des Grundgesetzes, dass die Grundrechte den Staat binden und nicht die Privaten, zumal die Tarifautonomie durch eine besondere Staatsferne geprägt ist.
  1. a) Die Bindung der Koalitionen an die Grundrechte des Grundgesetzes folgt daher, wie generell bei Privaten, nach Maßgabe der mittelbaren Drittwirkung. Ist eine Norm der Zivilrechtsordnung auslegungs- oder konkretisierungsbedürftig, ist sie grundsätzlich der Einwirkung der Grundrechte in Form der mittelbaren Drittwirkung zugänglich.
  1. b) Als Anknüpfungspunkt für die Ausstrahlungswirkung kommen im vorliegenden Fall § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG, die richterrechtlich hergeleiteten allgemeinen Grundsätze des Tarifvertragsrechts sowie §§ 242, 138 Bürgerliches Gesetzbuch in Frage, wobei die Vielfalt der potentiellen Begründungswege an der Eindeutigkeit des Ergebnisses nichts ändert. Da die Befugnis der Tarifvertragsparteien, normative Regelungen für die Tarifnormunterworfenen zu treffen, in § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG niedergelegt ist, ist nach meiner Ansicht diese Norm als „Einfallstor“ für die mittelbare Drittwirkung heranzuziehen.
  1. c) Vermittelt § 4 Abs. 1 Satz 1 TVGin Verbindung mit dem Beitritt des Arbeitnehmers zu der Koalition dieser die dem hoheitlichen Normgeber ähnliche Rechtsmacht, die Inhalte der Individualrechtsverhältnisse ihrer Mitglieder unmittelbar zu gestalten, so folgt aus der Ausstrahlungswirkung des Art. 3 Abs. 1 GG, dass sie dabei einzelne Gruppen nicht im Sinne einer willkürlichen Schlechterbehandlung erkennbar diskriminieren darf. Diese Ausstrahlungswirkung begründet die Geltung eines Willkürverbots als Grenze der in § 4 Abs. 1 TVG angeordneten unmittelbaren und zwingenden Wirkung. Eine darüber hinausgehende Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz bei einer Inhaltskontrolle normativer Regelungen von Tarifverträgen, die die Senatsmehrheit (über die Annahme einer unmittelbaren Grundrechtswirkung) in anderen als der vorliegenden Situation offenbar für denkbar hält, dürfte im Wege der mittelbaren Drittwirkung nicht begründbar sein. Zum einen enthält Art. 3 Abs. 1 GG kein objektives Verfassungsprinzip, wonach die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten von diesen prinzipiell gleichheitsgerecht zu gestalten wären, zum anderen widerspräche dies der dem Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG zugrunde liegenden Staatsferne und führte zu einer Beschränkung der Tarifautonomie, die deren Besonderheiten nicht gerecht würde.
  1. d) Misst man an einem solchen Willkürverbot die in Rede stehende Differenzierung zwischen den beiden Arten von Nachtarbeit, ist eine Verletzung des Willkürverbots durch deren differenzierende Behandlung bei den Zuschlägen nicht zu erkennen, wie die Senatsentscheidung ausführlich darlegt. Da die angefochtenen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts dies missachten, schränken sie die Koalitionen in ihrer Tarifautonomie zu stark ein und verletzen somit Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG.

Henn empfahl, die Entscheidung zu beachten und in Zweifelsfällen rechtlichen Rat einzuholen, wobei er u. a. dazu auch auf den VDAA-Verband deutscher ArbeitsrechtsAnwälte e. V. – www.vdaa.de – verwies.

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